Hoffnungsbrief Nr. 49
Eingang: 03.03.2021, Veröffentlicht: 03.03.2021
Liebe Gemeinde!
Augen sind die Fenster zur Seele, so sagt man. Und es ist tatsächlich so: Auch wenn sich jemand sonst gut verstellen kann – die Augen verraten einen als erstes. In ihnen kann man lesen, was ein Mensch fühlt und denkt; kann ohne Worte verstehen. Liebe kann man im Blick eines anderen finden oder Neugier; Interesse-aber auch Angst, Trauer und Wut. Und wenn ein Lebewesen stirbt, dann richtet sich der Blick in die Ferne; die Augen schauen, ohne wirklich zu sehen. Ja, in den Augen kann man ein Stück Seele erkennen-zumindest, wenn man ein offenes Herz hat und einen aufmerksamen Blick.
Wenn im Glauben von Augen die Rede ist, dann denken die meisten Menschen erstmal an Gottes Augen. “Der liebe Gott sieht alles” - das hat sicher mancher von uns als Kind gehört; meist in einer Situation, in der man heimlich etwas Verbotenes getan hat. Viele Menschen stellen sich deshalb auch Gott als ein riesiges Auge vor, das vom Himmel blickt und einen überall hin verfolgt. Dieses Gottesbild finde ich schwierig. Ich denke auch, dass Gott mich sieht, wo immer ich bin-aber nicht, um mich bei meinen Verfehlungen zu ertappen, sondern um mich zu behüten “wie seinen Augapfel” - so heißt es in der Bibel. In einem neueren Kirchenlied wird gesungen: “Du bist ein Gott, der mich anschaut, du bist die Liebe, die Würde gibt”. Ja, so ist das: Gott schenkt mir Beachtung, er sieht mich. Er sieht mich an, mit liebevollem Blick, sieht bis in meine Seele hinein - und das ist gut.
Was aus der einen Blickrichtung zumindest vorstellbar ist, ist aus der anderen Perspektive schwieriger. Nicht sehen-und doch glauben, das ist schon dem Jünger Thomas schwergefallen, der nach der Kreuzigung erst an den Auferstandenen zu glauben beginnt, nachdem er die Wundmale an Jesu Körper mit eigenen Augen gesehen hat. Gott kann man nicht sehen-für Manchen ist dies das größte Glaubenshindernis. Und doch heißt es im 25. Psalm: “Meine Augen sehen stets auf den Herrn.” Von diesem Bibelvers hat der kommende Sonntag seinen Namen: Okuli-Augen.
Wenn ich vor meinem inneren Auge vorbeiziehen lasse, was meine äußeren Augen im Laufe eines Tages gesehen haben, dann finde ich da auf den ersten Blick wenig, was eindeutig auf Gott hinweist. Gleichzeitig spüre ich aber, dass die Bilder des Tages sehr intensiv auf mich wirken. Mehr als Worte prägen sie sich ein und haben Einfluss auf mein Denken und Empfinden. Bilder aus den Nachrichten und aus Zeitschriften. Dinge aus Schaufenstern und Katalogen. Vertraute oder fremde Gesichter und mein eigenes Gesicht im Spiegel. Alle diese Bilder lassen mich nicht unberührt. Sie lösen Mitleid aus, Angst, Freude, Begehren, Zweifel, Selbstzweifel. Und oft lassen mich die Seheindrücke eines Tages nicht zur Ruhe kommen.
Seit einiger Zeit versuche ich, den Bildern und Gedanken des Tages etwas entgegenzusetzen, wenigstens manchmal: ich meditiere. Ich übe mich quasi darin, meinen Geist leer werden zu lassen und mein inneres Auge auf Gott hin auszurichten. Meinen Blick zu schärfen, um auch in der Welt zwischen den Zeilen lesen zu können und Gottes Spuren zu entdecken. Mir tut das gut-und es hilft mir auch in meinem Umgang mit anderen Menschen, wenn in meinem Herzen Platz ist für das, was ich in ihren Augen an Seele entdecken kann.
Das ist vielleicht das Gute an den Kontaktbeschränkungen dieser Zeit - sie machen uns wieder deutlich, wie wertvoll jede einzelne Begegnung ist. Das kann dabei helfen, Zwischenmenschliches nicht einfach zu konsumieren, sondern bewusst zu gestalten und zu genießen.
Herzlichst, ihre Zwischenzeitpastorin
Anne-Christin Ladwig
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